Vom Hundeangriff zur Abendstille

4.4. Inszenierte Vollkommenheit

Ina Geißler - Kartierung der Innenwelt - Schaf

Ich sitze mit ihr und den Kindern an einem Tisch unter freiem Himmel. Die Sonne scheint warm, und die Stimmung ist friedlich, fast so, als hätte der Streit vor all den Jahren nie stattgefunden. Damals hatte sie mich als Mutter kritisiert, sich besserwisserisch eingemischt, mir meinen quengelnden Sohn aus der Hand genommen, weil er ihre Pläne genauso wenig mochte wie ich. Seitdem herrscht Distanz. Und doch, jetzt, in diesem Traum, sind wir beisammen, als wäre nichts geschehen. Unter der Oberfläche bleibt ein stummes Verlangen nach Harmonie, die nie ganz greifbar ist.

Später sehe ich mich auf der Heimfahrt in einem Bus. Wir halten am Ende einer Kurve am Fuße eines dunkelgrünen Berges, der bereits in der Dämmerung verschwindet. Ich stehe nun auf einer verlassenen Landstraße, irgendwo, mit alten Briefen in zerfallenden Kartons in den Händen. Alles wirkt fragil, die Vergangenheit droht zu entgleiten. Als der Bus stoppt und ich auslade, merke ich, dass mir etwas gestohlen wurde – die Koffer mit Briefen, Bildern und meinen Malsachen. Der Verlust trifft mich schmerzhaft, als hätte jemand ein Stück meiner Geschichte entrissen, doch der Dieb verschwindet in der Dunkelheit, genauso wie die freundliche Busfahrerin, die mir Hilfe angeboten hatte. Vorne an der Stelle des Fahrersitzes bleibt nur eine leere, schwarz ausgekleidete Nische zurück.

In der Mittagshitze unterhalb eines begrünten Hanges sitzen drei ältere Frauen, stets makellos und kämpferisch in ihrer Darstellung von Jugend und Erfolg. Mit dem Rücken zu mir gewandt, in geblümten Sommerkleidern nebeneinander, beißen sie jetzt fast gleichzeitig in übergroße Schokoriegel, die Sonne im Gesicht. Für einen Moment wirken sie seltsam menschlich, ihre Perfektion bricht. Ich spüre das Bedürfnis, ihre stummen Kämpfe zu verstehen, und setze mich hin, lächle still.