Von Löwengier zu Wolfszähmung

3.4. Rastlos zum Waldausgang

Ina Geißler - Kartierung der Innenwelt - Wolf

Ich befinde mich in einer Herberge, in der ich jeden Tag eine neue Person nach ihren Träumen frage. Im Gruppenraum herrscht eine gespannte Stille, während ich kurze Sätze aus den Erzählungen der anderen in ein virtuelles Register eintrage. Es gibt Kategorien, die ich gleichmäßig füllen möchte, doch das erweist sich als schwierig. Einerseits erleichtert es mich, dass ich nicht mehr allein für die Strukturierung und Interpretation meiner eigenen Träume verantwortlich bin. Gleichzeitig spüre ich jedoch einen starken Drang, die Geschichten der anderen zu beeinflussen. Ich will Kontrolle über diesen Prozess haben, über die Bedeutung, die den Träumen zugeteilt wird.

Vor der Herberge bin ich im Wald. Der Aufstieg auf die Anhöhe ist mühsam, und ich bewältige ihn zunächst allein. Die körperliche Anstrengung soll mir und anderen etwas beweisen – etwas, das ich selbst leisten muss, auch wenn es von außen kaum zu verstehen ist. Warum ich das tue und woher ich die Kraft nehme, bleibt ein Rätsel – auch für mich. Später gesellt sich jemand zu mir, doch meine Erschöpfung wächst. Die Dunkelheit kriecht zwischen die Bäume, und als ich kurz vor Einbruch der Nacht den Waldausgang erreiche, steigt die Angst vor Wildschweinen in mir auf. Vor mir läuft eine Gruppe von Menschen, deren Rücken ich schutzsuchend mit den Augen fixiere. Doch jetzt verschwimmen ihre Gestalten, und ich kann sie kaum noch erkennen. Ich folge ihnen – mehr aus Notwendigkeit als aus Wahl, getrieben von einem unstillbaren Bedürfnis, nicht zurückzubleiben. Stolz und Mattigkeit vermischen sich, doch die Rastlosigkeit lässt keine Ruhe zu.